Florjan Lipuš: DAS GROSSE KÄRNTNER SAGEN

Ich gehöre auch zu denen, die einem betrunkenen, durch Selbstschuld tödlich verunglückten Autoraser keine Träne nachweinen, und schon gar nicht, wenn dieser eine hohe öffentliche Stellung bekleidet hat und somit die verdammte Pflicht hatte, Vorbild zu sein, für alle und in jeder Hinsicht. Als ein Leben lang sich meiner slowenischen Muttersprache Bedienender habe ich auch keinen Grund dazu, der Verunfallte hat meine Volksgruppe mit Genuß vorgeführt und meine Sprache verachtet. Um die Bedeutung der Sprache als das Wichtigste einer Nation wissend, hat sich dieser hohe Herr, bar jeden Respekts, grinsend darüber hinweggesetzt. Habe auch keine Kerze angezündet und gehöre auch nicht zu den in den Kondolenzbüchern verewigten Kärntner Slowenen. Aber die können diese Zeichen wohl nur aus tiefstem katholischen Urverständnis heraus gesetzt haben: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so schlage dich selbst auf die linke. Sie glaubten wohl, er wäre der Landeshauptmann aller Kärntner gewesen. War er nicht. Die Katholiken und andere Heiden haben es derweil weit gebracht: Ein Menschenleben gefährdender Raser, der zeitlebens den Humanismus verhöhnt und keinen Respekt vor Höherem hatte; der sich gottähnlich alle Bosheiten der Welt erlaubte; der unnötige Konflikte, Ausgrenzung, Feindbilder, Fremdenhaß produzierte; der gegen die Privilegien der anderen wetterte, aber die seinen in vollen Zügen genoß; der mit Vergnügen die politische Kultur mit Füßen trat und dem es wie keinem anderen gelang, die Atmosphäre zwischen den Volksgruppen für Generationen zu vergiften, dieser Untote mit seinen heilbringenden Tätigkeiten wird sogleich zum christlichen Idol erklärt. Die katholische Kirche sprang auf den in Fahrt geratenen Zug auf und setzte sogleich zur Heiligenverehrung an, kaum hatten die Kärntner Medien mit der Heiligsprechung begonnen. Auch die evangelische Kirche glaubte, die Gnadengabe (= Charisma) bemerkt zu haben bei dem »im Leben wie im Sterben als skrupellos in Erscheinung Getretenem« (Oliver vom Howe) und bei seinen segensreichen Aktionen. Johannes Mario Simmel, auch ein Toter dieser Tage, vermerkte einmal: »Die großen Vier in Jalta müssen besoffen gewesen sein, als sie feststellten, Österreich sei eine befreite Nation und das erste Opfer der Hitler-Aggression«. Die Kirchen eben müssen nicht besoffen, aber umnachtet gewesen sein. Was noch schlimmer ist, denn der Rausch verraucht, die Umnachtung bleibt.
Nicht zufällig hat Wolfgang Schüssel als erster an oberster Stelle die menschenverachtende Politik und die dazu passende sprachliche Gehässigkeit salonfähig gemacht und damit ein nie entnazifiziertes Land wie Kärnten in seiner Geisteshaltung bestärkt und aufgewertet. So ist manche Unwürdigkeit inzwischen gewöhnlich geworden, im Land der Trachten und der GTI-Fahrer, im Land der Populisten und Egozentriker, die das große Sagen haben und das ganze Land für sich vereinnahmen, obwohl nur von einem Teil der Bevölkerung gewählt. Sie haben Kärnten für sich gepachtet und stülpen ihre geistigen Segnungen über alle. Sie haben keinen Respekt vor Andersdenkenden, auch nicht vor sich selbst. Wie sonst kann das Fehlen der Schamschwelle erklärt werden? Eine Schamschwelle ist praktisch nicht vorhanden. Die politische Stumpfheit, Verbohrtheit, Unbelehrbarkeit, Primitivität feiern fröhliche Urständ. Und der übergeordnete »Rechtsstaat«? Die »Argumente« gegen zweisprachige Ortstafeln können an Dummheit und Dreistigkeit nicht mehr überboten werden. In Kärnten geht das Recht nicht von der Verfassung, sondern von den Launen der »Volksempfindlichen« aus. Und schon immer haben sich krankhafte Geister für die gesündesten gehalten.
Politisch, kulturell, ökonomisch ist Kärnten Schlußlicht. Trotzdem keine Visionen, dafür aber Mythen. Die öffentlich beworbene Kultur dieses Landes besteht aus Volksbrauch und Gesang. Der Kärntner feiert das Polentafest, das Gulaschfest, das Schinkenfest, das Käsefest, das Hadnfest, das Salami- und Speckfest. Kärnten ist sich zu nichts schade, Kärnten ist nichts peinlich. Die wirklich kulturellen Ereignisse im Sinne von Anspruch werden von dieser Kärntner Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Wirkliche Kultur kommt auf privates Betreiben zustande, beruht auf Privatinitiativen und auf dem persönlichen Engagement der Interessensgruppen. Sie hebt sich wohltuend von dem offiziellen Stumpfsinn ab. Aber sie dient als Alibi und wird gern als Beleg für Kärntens ungemein hohes Kulturschaffen angeführt. Nicht alle können Kärnten verlassen, viele sind gezwungen zu bleiben. Aufschreie gibt es schon lange nicht mehr. So soll es auch bleiben. Man hat nicht vor, in Kärnten etwas zu ändern. Die leicht zu habende und leicht handzuhabende, auf schlichte Gemüter bauende Provinzposse wird von den Kärntner Großtuern und Politopportunisten am Brodeln gehalten. Die wahren Probleme mögen anderswo angegangen werden!
Nun sind vor gar nicht so langer Zeit unzählige Österreicher verschiedener Muttersprachen Opfer dieser Gesinnung geworden. Ihnen allen, den Millionen in den KZs Umgebrachten, dem Widerstand, den Partisanen, haben wir es zu verdanken, daß wir heute in einer freien Demokratie leben können. Richtig, die Aufarbeitung in Österreich geht schleppend vor sich, aber sie geht vor sich, in Kärnten findet sie nicht statt. Hier wird nicht nur der Nazi-Ungeist weitergereicht, hier werden Naziverbrecher geschützt und gehegt. Während die Menschen in den KZs dahinstarben, konnten ihre Peiniger und Mörder in ferne Staaten flüchten. Der Historiker Gerald Steinacher schildert in seinem Buch »Nazis auf der Flucht« (Studienverlag, Innsbruck, Wien, Bozen, 2008) detailiert, wie etwa 500 NS-Schergen und 50 Massenmörder mit Unterstützung der katholischen Kirche ihre Haut retten konnten. Katholische Geistliche, Pfarrhöfe und Klöster versteckten sie, besorgten ihnen Reisedokumente und verhalfen ihnen zur Flucht über Italien nach Übersee und anderswohin. Wie es wohl kein faschistisches Regime auf der Welt gab und gibt, das die katholische Kirche nicht unterstützt oder gar selbst einzurichten geholfen hätte. Milivoj Ašner, Nummer vier auf der Liste der meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher, blieb dank Kärnten auch dies erspart, er kann unbehelligt seine alten Tage in Klagenfurt verbringen. Nachfolger alter Nazis, ihre Enkel und Kinder sind heute in fast allen Parteien integriert und setzen ihre Ziele mit anderen Mitteln fort.
Nun kann man die Schuld an diesem armseligen geistigen Zustand eines Bundeslandes nicht dem Politiker allein zuschieben. Er hat die Intoleranz nicht eingeführt, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben, sondern er hat sich nur der vorhandenen Intoleranz bedient. Er hat die Fremdenfeindlichkeit nicht erfunden, er hat sich nur in ihre erste Reihe gestellt. Der Führer hat sich sein Volk ausgesucht, ebenso wie das Volk seinen Führer installiert hat. Die Kärntner Politiker haben die Windfahnen gesehen und haben die ihre danach ausgerichtet. Sie sind Handlanger dieser in Jahrhunderten im Volk befestigten und erstarrten Politik, damit sie an die Macht kommen und dort bleiben können, sie sind ihre Wasserträger. Sie führen das Volk nicht, sie laufen dem Volk nach. Nur keine Vorgaben für geistig Anspruchsvolles, nur nichts Anstrengendes, nichts Außergewöhnliches! Die große Mitläuferin, die Kirche, hat am geistigen Zustand des Landes wesentlichen Anteil: sie hat Schlimmes nicht verhindert und Besseres trotz zahlreicher Bemühungen beider Volksteile in Kärnten nicht zustandegebracht. Sie hat den Verstand schon immer mißbraucht, um das machtbetonte Vorleben nach dem zurechtgebogenen Glauben zu rechtfertigen. Vielen genügt dieser Einblick und sie wenden sich ab. Man braucht nicht auf die heutigen rückwärtsgewandten lächerlichen päpstlichen Machtdemonstrationen zu warten, allein schon die Verbrechen, begangen im Namen des Glaubens, genügen.
Das Phänomen der Vernarrtheit in die Macht sei nichts anderes als der Ausgleich von Minderwertigkeitsgefühlen, von angeschlagenem Selbstbewußtsein, von Unsicherheit, von schlechtem, bösem Gewissen, belehren uns Psychologen. »Großzügigkeit leisten kann sich nur jemand, der sich nicht klein fühlt. Österreich schrumpft von Tag zu Tag« (Ruth Beckermann, Filmemacherin). »Nach Gesetzen vorgehen muß man, wenn es um ein paar arme Teufel geht, aber wenn ein Landeshauptmann und sein Nachfolger das ,gesunde Volksempfinden’ über die Gesetze stellen« (Hans Rauscher), dann brechen wir lieber die Gesetze, ganz offiziell und laut, damit es auch die ganz Dumpfen sehen und dem Beispiel folgen können.
Die das große Sagen haben in Kärnten, haben es auch lauthals, lärmend und marktschreierisch. Vernunftsargumente und Augenmaß zählen nicht, es gibt kein Durchkommen, Bemühungen um Ausgleich sind verlorene Liebesmühen. Der Rest ist schweigende Mehrheit. Der slowenischen Bevölkerung wird vor Augen geführt, sich ihrer Wurzeln zu entledigen, auf sie zu verzichten. So wie es bisher Generationen, auch Generationen von Politikern, bereits getan haben und diesen Prozeß hinter sich haben. So hat man die richtigen Leute fürs »gesunde Volksempfinden«. Auf die Verbliebenen wird hartnäckig gewartet, entsprechend dem tausendjährigen Spruch: Macht mir das Land deutsch, und beeilt euch! Kärnten ist ein Glanzbeispiel an gesunder Intelligenz: Bäume sollen ihre Wurzeln abwerfen, Bäume sollen vom Wurzelwerk abgeschnitten werden, damit sie den richtigen Kärntner Wuchs erlangen. Auch Menschen brauchen Wurzeln, die erst recht, um im selischen Gleichgewicht zu bleiben. Halb Kärnten wird von Entwurzelten bevölkert.