"Falsche Opferrolle in österreichischer Unabhängigkeitserklärung 1945"

Der Bundespräsident übt im STANDARD-Interview Kritik am Geschichtsbild Österreichs – “Kein Wort für die jüdischen Opfer”
Bundespräsident Heinz Fischer stellt die österreichische Unabhängigkeitserklärung infrage. Mit diesem Dokument sei eine falsche Geschichtsbetrachtung festgeschrieben worden, die einer Aufarbeitung der Nazi-Zeit im Weg gestanden sei. Das Gespräch über Vergangenheitsbewältigung, Aussöhnung und Wiedergutmachung führten Eva Linsinger und Michael Völker.
STANDARD: Sie haben unlängst Leon Zelmann geehrt, dessen Jewish Welcome Service sich seit 25 Jahren um Versöhnung bemüht und Vertriebene nach Österreich einlädt. Was macht es heute noch so schwierig, Vertriebene mit Österreich auszusöhnen, was macht es den Österreichern so schwierig, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Fischer: Unsere Schuld gegenüber Menschen, die aus Österreich vertrieben wurden und in der Fremde verstorben sind, ist in vielen Fällen leider unbeglichen geblieben. Heute fällt uns manches leichter, aber es ist in vielen Fällen zu spät. Bei der Suche nach Antworten muss man wahrscheinlich schon bei der österreichischen Unabhängigkeitserklärung vom April 1945 beginnen. Mit diesem Dokument wurde die Republik Österreich als demokratischer und selbständiger Staat wiedererrichtet. In der Begründung der Unabhängigkeitserklärung wird aber eine Geschichtsbetrachtung geliefert, die ich für sehr problematisch halte. Da wurden Klischees formuliert, die einer ehrlichen Aufarbeitung dessen, was in Österreich geschehen ist und warum es geschehen ist, jahrzehntelang im Weg gestanden sind.
STANDARD: Welche Klischees wurden hier festgeschrieben?
Fischer: In der Unabhängigkeitserklärung wird zum Beispiel der von Hitler angezettelte Krieg als einer bezeichnet, der von keinem Österreicher jemals gewollt oder vorauszusehen war. Und das ist nicht richtig. Viele, viele Menschen haben gewusst: Hitler, das bedeutet Krieg. Das ist auch öffentlich von Intellektuellen, von Sozialdemokraten, von Katholiken und anderen gesagt worden. Und bei den ersten Kriegserfolgen Hitlers 1939 und 1940 haben auch viele Österreicher voller Begeisterung die Triumphe der Hitler-Armee mitgetragen.
STANDARD: Dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich sind viele Österreicher auch nicht mit Entsetzen begegnet.
Fischer: Der Anschluss 1938 wurde in der Unabhängigkeitserklärung als ein Akt der Überrumpelung und der Kriegslist dargestellt – mit den Worten: Der Anschluss wurde einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepresst. Die historische Wahrheit ist aber eine andere: dass die österreichische Regierung im März 1938 weit gehend hilflos und tatenlos war, weil sie im Inneren nur eingeschränkte Autorität hatte. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil der österreichischen Bevölkerung hat den Einmarsch deutscher Truppen von der Grenze bis zum Heldenplatz mit einem beträchtlichen Ausmaß an Begeisterung begleitet. Natürlich hat es auch viele gegeben, die geweint haben, die geschockt und entsetzt waren. Aber alle Dokumente, die wir haben, zeigen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der österreichischen Bevölkerung diesen Anschluss begrüßt hat.
STANDARD: Dieser Frage stellten sich die Österreicher nie gerne.
Fischer: In der Unabhängigkeitserklärung wird auch ausgeführt, dass hunderttausende Söhne unseres Landes im Krieg “von den Eisfeldern des hohen Nordens bis zu den Sandwüsten Afrikas” ihr Leben verloren haben. Das war natürlich schrecklich und tragisch. Aber es gibt in diesem Dokument kein Wort für die jüdischen Opfer, für die, die in den KZs umgekommen sind, die das Land verlassen mussten, die der NS-Justiz zum Opfer gefallen sind. Hier fehlt einfach ein Teil der Realität. Somit hat es von Anfang an eine Sichtweise gegeben, die nicht jene Differenziertheit und Gründlichkeit hat, die man braucht, wenn man die Geschichte aufarbeiten will. Das mag ein Teil der Erklärung sein, wieso nach dem Krieg manches an Aufklärung, an Versöhnungsbemühungen, an Einladung an die Vertriebenen unterblieben ist.
STANDARD: Die Unabhängigkeitserklärung wurde von SPÖ, ÖVP und KPÖ unterschrieben. Lag diese einseitige Darstellung der Geschichte im Interesse der Parteien?
Fischer: In der Moskauer Deklaration aus 1943 wird Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus bezeichnet. Und das war Österreich im rechtlichen Sinne. Es ist ja nicht Österreich in Deutschland einmarschiert, sondern Deutschland in Österreich. Österreich war ein Opfer dieser Aggression. Aber ich glaube, dass man bei der Aufarbeitung der Geschichte hinzufügen muss, dass der tatsächliche historische Verlauf komplizierter war, als zu sagen, Österreich war das Opfer. Aus dem ist dann auch eine Haltung entstanden, aus der die Täterrolle vieler Österreicher lange Zeit ausgeklammert wurde. Es ist eine Errungenschaft der letzten 20 Jahre, dass man sich dazu bekannt hat, der Realität ins Auge zu sehen: Österreicher waren in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer, aber auch Täter. Das ist die ganze Wahrheit.
STANDARD: Dieser Wahrheit ist man lange aus dem Weg gegangen. Warum hat die Aufarbeitung der Geschichte erst so spät stattgefunden?
Fischer: Am Beginn der Zweiten Republik stand zunächst eine verkürzte Wahrheit, ausgehend von der Moskauer Deklaration, fortgesetzt in der Präambel zur Unabhängigkeitserklärung. Wahrscheinlich hat es das ohnehin schon schrecklich schwere Leben nach Kriegsende ein bisschen leichter gemacht, nicht noch zusätzliche Schuld auf die eigenen Schultern zu laden. Befreites Aufatmen ist aber erst möglich, wenn man sich mit der Geschichte gründlich auseinandersetzt, wenn man an die vielen, teils heroischen Opfer denkt, aber die Facette der Täterschaft nicht einfach ausblendet. Sonst ist die Aufarbeitung nicht vollständig.
STANDARD: Die Opferrolle, die in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben wurde, ist jahrzehntelang unwidersprochen weitergetragen und auch gelebt worden. In den vergangenen 20 Jahren hat zwar sicherlich eine Aufarbeitung stattgefunden, aber wie auch der Streit im Bund Sozialdemokratischer Akademiker gezeigt hat, ist sie offensichtlich noch nicht abgeschlossen.
Fischer: Dieser Prozess der Aufarbeitung hat mindestens 20 Jahre gedauert und ist auch heute nicht gänzlich abgeschlossen. Ich glaube, dass die wissenschaftliche Forschung sicher noch manche Beiträge und Präzisierungen leisten wird. Man muss aber auch vermeiden, dass das Pendel von einem Extrem ins andere ausschlägt – dass man sich am Anfang pauschal als Opfer gesehen hat und jetzt Pauschalurteile in der anderen Richtung gefällt werden.
STANDARD: Wenn Bruno Kreisky noch am Leben wäre, würden Sie ihm heute gern Fragen stellen – etwa zur umstrittenen Wiesenthal-Affäre?
Fischer: Die Wiesenthal-Affäre ist eines der Themen, wo für mich Klarheit herrscht. Da ist Kreisky falsch gelegen. Heute würde ich mir wünschen, dass er sich anders verhalten hätte. Da habe ich gar nicht so viele ungeklärte Fragen. Aber bei anderen Menschen und zu anderen Themen fallen mir viel mehr Fragen ein, die man im Kontakt mit Betroffenen nicht gestellt hat. Und mir fällt auf, dass ich ein Dokument wie die Unabhängigkeitserklärung heute mit anderen Augen lese als zur Zeit, wo mir das an der Universität beim Jus-Studium vorgetragen wurde. Ich glaube, dass wir ein besseres Sensorium entwickelt haben. Ich habe mich immer als Antifaschist empfunden – aber auch mir ist manches in den 60er-Jahren nicht aufgefallen, was mir heute auffällt.
Ich habe viele Leute gekannt, die in Konzentrationslagern waren, von meinem Schwiegervater bis Rosa Jochmann und andere, die aus den KZs zurückgekommen sind: Rudolf Häuser und Herrmann Lackner, Alfred Migsch und wie sie alle geheißen haben. Wenn sie noch am Leben wären, würde ich ihnen heute viele Fragen stellen, die ich ihnen vor 30 Jahren nicht gestellt habe, obwohl ich engsten Kontakt mit ihnen gehabt habe. Ich kann mir das nur so erklären, dass diese ehemaligen KZ-Opfer jahrzehntelang nicht sprechen konnten und wollten. Wir, die Jüngeren, waren dadurch auch gar nicht in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen und auf den Punkt zu kommen. Jetzt ist es zu spät. Diese Generation hat uns zu einem beträchtlichen Teil schon verlassen.
STANDARD: Gerade in den letzten Wochen hat sich die Öffentlichkeit wieder intensiv mit der Geschichtsaufarbeitung auseinandersetzen müssen. Etliche Kunstwerke, darunter die “Goldene Adele” von Klimt, wurden zurückgegeben. Haben Sie die Befürchtung, dass hier wieder antisemitische Reflexe oder Neidgefühle freigesetzt werden, wenn das Klischee des reichen Juden strapaziert wird?
Fischer: Ich habe tatsächlich Sorge gehabt, dass solche Gefühle in den Vordergrund treten und die Oberhand bekommen könnten. Aber ich bin wirklich positiv überrascht. Die österreichische Öffentlichkeit hat sich in dieser Frage sehr korrekt verhalten, auch die Debatten im Parlament wurden sehr verantwortungsvoll geführt. Und es ist ja in der Tat erklärbar. Wenn jemandem etwas weggenommen wurde, etwas abgepresst wurde, er, um sein Leben zu retten, Kunstgegenstände zurücklassen musste, dann hätte er das eigentlich schon unmittelbar nach dem Krieg zurückbekommen müssen. Wenn das 60 Jahre lang gedauert hat, kann man nicht demjenigen, der warten hat müssen, auch noch Vorwürfe machen – oder den Betreffenden scheel anschauen.
STANDARD: Sind die Restitutionsmaßnahmen ausreichend?
Fischer: Es ist bedauerlich, dass es so lange gedauert hat. Und es ist anerkennenswert, dass in letzter Zeit Entscheidungen getroffen wurden. Österreich hat sich hier richtig verhalten und ist nicht in Gefahr geraten, 60 Jahre später ein zweites Mal gravierende Fehler zu machen. Diese Sache lässt einen Kunstfreund sicher nicht unberührt, aber die Sache ist richtig entschieden worden. Schnell genug wäre es nur gewesen, wenn man schon im Jahr 1949 ernsthaft mit der Restitution begonnen hätte. Wenn wir von Anfang an so gehandelt hätten wie in den letzten zehn Jahren, hätten die Dinge ganz anders ausgesehen.
STANDARD: Etliche Verfahren sind anhängig. Kann Wiedergutmachung abgeschlossen sein?
Fischer: Wiedergutmachung im eigentlichen Sinn des Wortes kann es niemals geben, hat es nie gegeben. Menschen, die man vertrieben hat und die zu hunderttausenden im Ausland verstorben sind, viele unter wirklich tragischen Lebensbedingungen – das alles kann man nicht mehr wiedergutmachen. Von jenen, die während der NS Zeit umgebracht wurden, ganz zu schweigen. Aber jetzt, zwei Generationen später, ist es darauf angekommen, ein Zeichen zu setzen.
STANDARD: Parallel zur Restitution wurden auch andere Signale gesetzt, etwa mit der Entschädigung für “Trümmerfrauen”. Historiker haben sich gegen die Verknüpfung ausgesprochen und kritisieren, dass damit die Opferrolle Österreichs wieder in den Vordergrund gestellt werde.
Fischer: Das ist eine schwierige Frage: Das hängt auch von der Gesinnung ab, in der man an das Problem herangeht. Wenn jemand sagt, den Opfern des Nationalsozialismus darf man nur dann etwas geben, wenn man auch den “Trümmerfrauen” etwas gibt, dann ist das völlig inakzeptabel. Eine solche “Kompensation” würde auch den Wert beider Gesten reduzieren. Anders ist es, wenn man sagt: Ich begrüße die überfällige Geste an Opfern des Nationalsozialismus, aber wahr ist, dass noch Frauen leben, die nach dem Krieg unter schwierigsten Umständen Aufräumarbeiten geleistet haben und zum Wiederaufbau der Republik beigetragen haben. Und wir sind heute reich genug, um den Menschen eine Geste zu setzen. Wenn da kein “Kompensationsdenken” gegenüber Opfern des Nationalsozialismus mitschwingt, habe ich gegen eine solche Geste nichts einzuwenden. (DER STANDARD, Printausgabe 10.4.2006)